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Edelgard Struss

Jetpilot

   Damals machte bei uns Kindern der Mythos vom Jetpiloten die Runde. Immer neue Geschichten gingen von Mund zu Mund. Chen Nase erzählte, seine Mutter habe in Harbin sowjetische Jetpiloten gesehen, alle trügen Gamslederjacken, kniehohe Gamslederstiefel, hätten Goldzähne und goldene Uhren, äßen turkmenische Würste aus Lebap und tränken Bier. Der Sohn des für den Brigadekornspeicher zuständigen Xiao Oberlippe parierte, die chinesischen Piloten äßen weit besser als die sowjetischen. Als sei er Jetpilotenkoch, ratterte er uns den Speiseplan chinesischer Piloten herunter: in der Früh zwei Hühnereier, eine Schale Kuhmilch, vier Schmalzkuchen, zwei Dampfnudeln und geschmortes Tofu, mittags eine Schale gesottenes Rindfleisch, einen gelben Fisch, zwei große Klebreisklöße, abends ein Brathühnchen, zwei mit Schweinemett und zwei mit Lammfleisch gefüllte Dampfnudeln, dazu eine Schale Hirsereisbrei. Nach jeder Mahlzeit noch Obst satt, Bananen, Birnen, Äpfel, Trauben, und was man am Tisch nicht aufisst, kann man mit aufs Zimmer nehmen. Pilotenlederjacken haben immer zwei große Taschen, das wisst ihr doch? Die wurden zum Obstmitnehmen entworfen! Wir mussten tüchtig schlucken, so war uns das Wasser im Munde zusammengelaufen. Jeder von uns träumte davon, Jetpilot zu werden und wie ein Halbgott zu leben.

 
S. 46 aus: Mo Yan, Frösche. Roman. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. © Carl Hanser Verlag, München 2013.
Abdruck mit Genehmigung des Carl Hanser Verlags