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Edelgard Struss

Journalist bei einer Tageszeitung

   Der Demokrat nahm einen Ehrenplatz in der Altstadt ein, zwischen einer Bank und einem Kaufhaus, genau richtig, um seine Rolle als Bindeglied zwischen den Bedürfnissen des Modernen Managers und der Gewöhnlichen Leute unter Beweis zu stellen. Diese beiden Schichten verstand der Demokrat mit großer Autorität von Mal zu Mal neu zu erfinden, zu definieren und zu umwerben. In der Redaktion herrschte das Prinzip open space, das heißt, sie war ein einziger Großraum mit Trennwänden und Pflanzen und Kaffeeautomaten unter einer einzigen dräuenden und licht-intensiven Decke, die den gemeinsamen Geist dieser Firma zu symbolisieren schien. Überall in diesem open konnte man in demokratischer Gleichheit den Furz des Chefredakteurs wie das Gähnen des einfachen Redakteurs hören, den Rüffel wie das Lob wie das unisonore Maschinengeklapper von demütigen Sekretärinnen und opinion leaders.
   Einzig der Herausgeber hatte ein persönliches Büro im obersten Stock. Es wurde gemunkelt, an dessen Wänden hingen echte Picassos und Mantegnas, Photos mit Widmungen von Diven und ausgestopfte Politikerköpfe. Auch traten angeblich vier Ex-Tänzerinnen aus dem Crazy Horse dort auf.
   Der Journalist Carlo Chamäleon lief durch die Labyrinthe des zweiten Stocks, warf einen Blick über die Trennwände und sah, wie die Kollegen pulsierten, entsprechend ihrer jeweiligen Kompetenz und Aufgabe.
   Da drüben lag der Bereich Ausland mit großen Weltkarten und galaktischen Lageplänen und kleinen Sekretärinnen vor riesengroßen Ordnern mit Spesenabrechnungen, dem Nachweis über die Aktivitäten der Korrespondenten an sämtlichen Sheraton-Fronten, in den Dschungeln von China-Restaurants, unter dem Feuer von Riesengarnelen, in den abgelegensten Wäschereien und bei vertracktesten Taxitouren.
   Weiter hinten erstreckte sich der, inzwischen auf das Zehnfache erweiterte, Bereich Mode - Großphotos an den Trennwänden, Redakteure mit gepolsterten Schultern und Redakteurinnen mit Metallic-Frisuren; daneben, vergleichsweise ungehobelt, der Bereich Sport mit bauchigen und rauchigen Redakteuren an ihren von lauter Reklamekalendern von der Oberliga und Unterliga und von Playboy überquellenden Schreibtischen.
   Dahinter der Bereich Wirtschaft, das Herz der Zeitung, via Telex verbunden mit den Riesen und Zwergen und mit allem Gold dieser Welt und unter direkter Leitung (so hieß es) durch das personifizierte Eigentum, nämlich mittels dreistündlich erfolgender Telephonate mit dem Ressortleiter. Hier riefen, so wurde behauptet, Fürsten und Emire an und drohten mit Geschenken oder Repressalien. Hier wurde, in computergesteuerten Seeschlachten, der Journalismus der Zukunft geschmiedet.
   Carlo Chamäleon geht weiter, vorbei an den Bereichen Reise, Test, Unbeschwerte Beilagen, Politikerkinder in Karrierestartlöchern, Heimliche Anrufe, Bingo, Toiletten, Graphik und Seefahrt. Hinter sich läßt er die Bar und die Verkaufsabteilung, die Marketing-Multiplikation, das Feuilleton (aus dem Duran Duran ertönen), die Heiß- und Kaltgetränkeautomaten, dann den Bereich Bissige Satiriker und Ätzende Karikaturisten, den Bereich Unbequeme Journalisten (erkennbar an der Bequemlichkeit der Sessel) sowie die Büros des Chefsteuermanns vom Chefstreicher (spezialisiert auf Nachrufe) und des Allerdienstlichsten Chefs vom Dienst, bis er - Carlo Chamäleon, der einzige schlichte Nemetscheck auf der Beförderungsliste des Demokrat - schließlich die Abteilung Umfragen erreicht. Einst hatte hier das intelligente Leben der Zeitung besonders pulsiert, heutzutage dagegen hatten hier alle die Ruhe weg, auch die monotonen Blutbad-Balkenüberschriften an den Wänden waren inzwischen durch Photos von hochgesponsorten Segelyachten ersetzt worden.
   Vorbei an zwei strafversetzten Demokratischen Journalisten, die an einer Umfrage über die Anzahl der Heftklammern, die man in einer Stunde entfernen kann, saßen, gelangte Carlo in den Fuchsbau des Chefbremsers. Und da saß er, hinter einem entblätterten Schreibtisch; auf dem befanden sich: Schreibmaschine, Fernseher, verschiedene Geschenknotizbücher, Vaporub, Valium, Whisky, ein Synonymwörterbuch und der Goldene-Bremse-von-Saint-Vincent-Pokal, zwei gekreuzte Kugelschreiber auf einem Granitkubus. In Hemdsärmeln saß er da, der Bremser, spielte nachdenklich mit einer Heftklammerentfernungsmaschine und versuchte, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Als Carlo Chamäleon eintrat, erstrahlte der Bremser in gesundem Menschenverstand und gähnte. Aufmerksam musterte er Chamäleons orangerote Weste und geschorene Haare, dann sagte er, jedes einzelne Wort skandierend: "Vorsicht mit dem Bengel in der Bessicostraße."
   Bewundernswerterweise drückte er sich im Gespräch ebenso bündig und erschöpfend aus wie bei seinen beruflichen Äußerungen. Carlo - der noch viel lernen mußte - fragte: "In welchem Sinn?"
   "In dem Sinn", sagte der Bremser, "daß schon viel zu viel geredet wird. Es gibt also zwei Arten des Vorgehens. Eine richtige und eine falsche."
   Etwa dreißig Sekunden Schweigen folgten. In der Ferne tanzte eine Olivetti den Feuilleton-Flamenco.
   "Falsch ist, Literatur zu machen, richtig ist, den gesunden Menschenverstand zu gebrauchen..."
   Das Chamäleon nickte, begriff aber einen Scheißdreck. "Der gesunde Menschenverstand sagt, wir haben uns nicht zu fragen' 'warum' wurde er ermordet, sondern, 'warum war er da?'. Und nicht nur, 'warum wurde auf ihn geschossen?', sondern, 'auf wen?' Und warum kommt ein 'junger' Mann derart herunter, daß er in einen Garten eindringt, der 'nicht seiner' ist? Wer trägt dafür 'Verantwortung'? Und was kann in solchen Fällen ein 'Journalist' leisten?"
   (Sämtliche Anführungszeichen ergeben sich aus einer Hebung der Stimme um einen Halbton und einer Handbewegung in der Art, mit der man einen Hund bei den Ohren zieht.)
   "Und fragen wir uns weiter: Welche Beziehung hat das zu einen Ideologie'rausch' der vergangenen Jahre? Wollen 'das' die Leute, oder wollen sie ganz etwas 'anderes'?"
   Nach diesen Worten hielt der Bremser inne, wie immer, wenn er selbst nicht verstand, was er gesagt hatte.
   "Kurzum, ich wünsche kein 'Gefühlsgedusel'. Ich möchte erfahren, welches 'gesellschaftliche Umfeld' einen Bengel dazu treibt, ohne Motiv in ein 'vornehmes' Apartmenthaus einzudringen."
   "Eigentlich", sagte das Chamäleon, "könnte man sich auch fragen, welches 'gesellschaftliche Umfeld' jemanden dazu treibt, aus dem Fenster zu ballern."
   "Richtig!" sagte der Bremser. "Das ist 'vernünftig'. Aber das wissen wir ja längst. Diese Stadt ist 'zermürbt' von Gewalt. Gewalt zieht neue Gewalt nach sich. Warum kann ein Mann 'die Kontrolle verlieren', nämlich über seine Nerven, und schießen?"
   Erneutes langes Schweigen.
   "Ich sage Ihnen 'warum'", sagte der Bremser. "War der junge Mann auf der Suche nach 'Drogen'? Wollte er etwas 'stehlen'? Ist unsere Stadt ein 'Saustall'? Müssen wir mit der Pistole in der Faust hinterm Fenster stehen? Oder, noch schlimmer, sollen wir jetzt wieder die alte Leier über die 'Randgruppen' anstimmen?"
   "Nein!" sagte das Chamäleon.
   "Richtig. Wir werden sagen, ein paar 'Rowdys' können eine 'gesunde' Stadt nicht kaputtmachen, denn im Grunde wird ja schließlich überall auf der Welt jeden Tag gestorben. Wissen Sie, wie viele Aale von den zwei Millionen, die im Sargassomeer losschwimmen, tatsächlich am Ziel ankommen?"
   "Hunderttausend?"
   "Da kann man mal sehen, wie unerfahren Sie noch sind in unserm Beruf. Drei! Ganze drei, verstehen Sie? Verstehen Sie, daß Journalismus immer auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit ist?"

 
S. 57 - 61 aus Stefano Benni, Komische erschrockene Krieger. Roman, © Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2000. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags: www.wagenbach.de