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Edelgard Struss

Kapitän

   Wie viele seiner Berufskollegen vermag der Kapitän dem Drang zum Aufschneiden und Fabulieren nicht zu widerstehen, selbst wenn es um Themen geht, die sich dafür gar nicht eignen, und es ist äußerst vergnüglich zu beobachten, wie er seinen Zuhörer gleichsam auf die Stimmung in seinem tiefsten Innern hin abhorcht, um sich zu vergewissern, ob dieser auch bereit sei, seine hinterlistigen Flunkereien zu schlucken. Bisweilen gehen diese beim Erzählen indes völlig unter: Im unerschöpflichen Sammelbrunnen der meerwassergetränkten Phantasie des Kapitäns sind sie, wie ich mir wohl vorstellen kann, sehr hübsch, doch die Verpflanzung in die seichten Binnenseen meiner vom Leben an Land geprägten Denkart verkraften sie nicht. Dann wieder, wenn der Zuhörer sich in einer verträumten, sentimentalen Stimmung befindet, in der er seine Prinzipien ganz und gar vergisst, trinkt er das Salzwasser, das der alten Mann ihm einschenkt, eimerweise, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Was ist schlimmer – eine hübsche kleine Lüge, die niemandem schadet, vorsätzlich zu erzählen oder vorsätzlich zu glauben? Vermutlich kann man nicht vorsätzlich glauben; man gibt nur vor zu glauben. Meine Rolle in dem Spiel ist deshalb fraglos ebenso verwerflich wie die des Kapitäns.

 
S. 35 – 36 aus: Henry James; Benvolio. Erzählungen. Copyright © 2009 by Manesse Verlag Zürich – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags: www.manesse.ch