Menu
Edelgard Struss

Landarzt

   Gestern holte man mich zu einem Kleinkind, das plötzlich verstorben war. Das Kind lag auf dem Küchentisch, vollständig entkleidet. Ich sah die kleinen Finger und Zehen, den rosa Körper. Man brachte mir alles, wonach ich verlangte, in größter Eile, als könnte ich das Kind wieder lebendig machen. Ich sagte, ich könne das Kind nicht mehr zum Leben erwecken, worauf man mich auf den Knien anflehte, nichts unversucht zu lassen. Schließlich hatte ich keine andere Wahl, als das Kind in die Instrumententasche zu packen und mitzunehmen. In meiner Verwirrung nahm ich es mit nach Hause, legte es hier auf das Bett und schaute es an. Ich verstand selbst nicht mehr, weshalb es mir nicht gelingen sollte, es wieder aufzuwecken. (So dachte ich bereits!) Nach einer Weile steckte ich es wieder in die Instrumententasche und lieferte es im Krankenhaus ab …

 
S. 119 aus: Gerhard Roth, Landläufiger Tod. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1984. Alle Rechte vorbehalten – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags