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Edelgard Struss

Vertreter einer Hanf- und Seilfabrik

   Wir schließen einen Fall von Berufstreue an. [...]
   Man fand eines sonnigen Vormittags nach einer langen Regenperiode in einer Potsdamer Villa eine Leiche. Die Tageszeitungen meldeten darüber: „Heute nacht wurde in einer Potsdamer Villa, die von drei Parteien bewohnt wird, ein Mann unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden. Das Revier alarmierte die Berliner Mordkommission, die zwei Beamte nach der Stelle entsandte. Sie fanden auch die Stadt Potsdam, die Villa, die drei Parteien. Ein Herr war tot. Es wurde ermittelt, daß der Tote ein abgebauter und durch sonstige Schwierigkeiten Potsdams vom Leben abgeschnürter Bücherrevisor war, der als Untermieter in jener Villa wohnte. Er trug als Leiche einen Strick um den Hals. Ob es sich um Selbstmord oder Verbrechen handelt, konnte nicht ermittelt werden.“
Die späteren Recherchen der Mordkommission ergaben: Der Tote trug schon zu seinen Lebzeiten diesen Strick um den Hals. Er war zuletzt Reisender in einer Hanf- und Seilfabrik gewesen und gehörte zu den tüchtigsten Vertretern seines Hauses. Ein Reklametrick von ihm war, die Festigkeit des Stricks zu beweisen, in dem er sich an einem der offerierten Stricke aufhängte. Seine Stricke gingen rasend. Der gute Vertrieb gestattete ihm, sich kräftiger zu ernähren, wodurch er in letzter Zeit an 68 Pfund zunahm. Man fand die Karte eines Gewichtautomaten bei dem Toten. Der Revisor konnte aber von dem Beruf, der ihm ans Herz, beziehungsweise an den Hals gewachsen war, nicht lassen, obwohl ihm Wohlmeinende zuredeten bzw. abrieten. In jener Villa nun, bei der Vorführung seiner Artikel vor seinen Hausgenossen, den drei selbst in großer Not befindlichen Wohnpartnern, ereilte ihn das Verhängnis. Sein Gewicht war groß, er fühlte die Gefahr, aber die Berufstreue überwog. Die Hausgenossen, die der Vorführung beiwohnten, schnitten ihn erst nach einer Stunde ab, da sie begreiflicherweise ein Interesse daran hatten, die Güte des Strickes wirklich bewiesen zu sehen. Sie handelten da im Sinne des Verstorbenen. Erst nach Ablauf einer reichlichen Stunde benachrichtigten sie das Polizeirevier und dieses die Mordkommission, welche, wie wir oben schilderten, wirklich die Stadt Potsdam, die Villa und den vom Leben nun endgültig abgeschnürten Bücherrevisor fand. Gewandt wie die Polizei war, schrieb sie alles auf und erzählte es ihren Kindern und Kindeskindern. Die Seilindustrie wird dem Reisenden zu danken haben.
    Die drei Wohnparteien, da selbst arm und er schon tot, konnten nichts anderes zu seinem Gedächtnis tun, als ihre Villa nach dem Strick ‚Festigkeit’ nennen.

 
S. 299 – 300 aus: Alfred Döblin: Babylonische Wandrung. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1982 (1934), © Olten: Walter-Verlag 1962. Text nicht mehr urheberrechtlich geschützt